Nutzung des französischen Chassepot-Gewehrs in den deutschen Armeen
Vielfach zeigte sich im Deutsch-Französischen Krieg die Unterlegenheit der deutschen Ordonnanzwaffen im Vergleich zu den Chassepot-Modellen der französischen Truppen. So berichten zahlreiche Memoiren und Regimentsgeschichten von der Ausrüstung ausgewählter Schützen mit Chassepot-Gewehren, um den Nachteil der eigenen Gewehre hinsichtlich der Reichweite ausgleichen zu können. Dies ging sogar soweit, dass komplette Züge mit Beutewaffen ausgerüstet werden konnten, wie der Freiherr von Wechmar für Mitte Januar 1871 zum Husaren-Regiment Nr. 4 berichtet:
"Zur Sicherheit und größeren Selbstständigkeit der Husaren trug die in dieser Zeit eingeführte Bewaffnung mit Chassepotgewehren bei, deren Zahl, anfänglich von der Division geliefert, sich durch eigene Sorge der Schwadronen bald so vermehrte, daß die gesammten vierten Züge damit versehen waren. Die Waffe war freilich etwas lang und schwer und nicht eben bequem auf dem Rücken zu führen, ihre größere Brauchbarkeit dem Zündnadelkarabiner gegenüber aber stellte sich bald heraus."[51]
Das gleiche Vorgehen, also die Bestückung des vierten Zuges mit Chassepot-Gewehren wird für Anfang November beim Ulanen-Regiment Nr. 13 berichtet[52], wie auch beim Husaren-Regiment Nr. 5 Mitte Januar 1871.[53]
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Darstellung des Chassepot-Gewehrs sowie der sechs Schritte des Ladevorgangs in französischer Sprache (© Musée de l'Armée Paris) |
Gerade im Patrouillendienst oder auf Feldwache bei den Belagerungen erkannten auch die Truppenführer die Überlegenheit der Chassepot-Modelle an, wie schon im September 1870 bei der preußischen Gardeinfanterie:
"Bei solchen Gelegenheiten und noch mehr bei Begegnungen unserer Patrouillen mit den feindlichen machte sich die geringe Schußweite des Zündnadelgewehrs im Vergleiche zu der etwa doppelt überlegenen Tragkraft des Chassepots so nachtheilig fühlbar, daß auf Befehl der Division Ende September an jede Kompagnie 10 bis 15 Chassepotgewehre, behufs Verwendung im Vorpostendienste durch gute Schützen, ausgetheilt werden."[54]
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Preußischer Infanterist in Amiens 1870/71 mit Chassepot-Gewehr. (Sammlung Jérome Lantz; Abbildung kann mit dem Mauszeiger vergrößert werden) |
Dieses Vorgehen beschränkte sich nicht nur auf die Truppen des Norddeutschen Bundes, sondern auch auf süddeutsche Verbände, wie beispielsweise beim hessischen 1. Reiter-Regiment, bei dem die gesamte Leibschwadron Anfang Dezember 1870 mit, von Gefangenen abgenommenen, Chassepot-Gewehren bewaffnet wurde.[55] Oder beim württembergischen 5. Infanterie-Regiment im Dezember 1870 vor Paris:
"Um den Vorposten eine Erwiderung des feindlichen Gewehrfeuers auch auf die weiten Entfernungen und eine Beunruhigung der feindlichen Schanzarbeiten zu ermöglichen, ließ Oberst Freiherr v. Hügel von den auf dem Schlachtfeld aufgelesenen Chassepotgewehren in jeder Kompagnie drei Stück mit entsprechender Munition an gute Schützen ausgeben, welche mehrfach erfolgreichen Gebrauch davon machten."[56]
Selbst Artilleristen wurden mit Chassepot-Gewehren ausgerüstet, wie beispielsweise die badische Artillerie zur Bewachung des Artillerieparks.[57]
Befehle zur Bestückung der Einheiten gingen selbst von Korpsebene aus, wie der Chronist des hessischen 2. Infanterie-Regiments für den 27. September 1870 berichtet:
"Nach einem Armeebefehl vom heutigen Tage sollte das IX. Armeekorps 200 Chassepotgewehre mit 10000 Patronen sowie 15 Zündnadelwallbüchsen mit 6000 Patronen empfangen, um sie beim Vorpostendienst zu verwenden. Die alsbald ausgegebenen Chassepotgewehre leisteten in der Tat infolge ihrer großen Tragweite sehr gute Dienste."[58]
Rezeption der Erfahrungen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71
Die beschriebene Nutzung der Chassepot-Gewehre führte im Nachgang zum Krieg zu Bewertungen der Feuerkraft der Handfeuerwaffen, vor allem des preußischen Zündnadelgewehrs im Vergleich zur französischen Waffe. So schreibt Malachowski 1892 in seinem Werk zur Entwicklung der Taktik:
"Das Chassepotgewehr war dem Zündnadelgewehr an Feuergeschwindigkeit, Tragweite und Rasanz überlegen. Seine Scheitelordinaten bis 600 Meter betragen auf allen Entfernungen ziemlich genau die Hälfte der des Zündnadelgewehrs.
Anfangsgeschwindigkeit bei Zündnadel 296 Meter,
Anfangsgeschwindigkeit bei Chassepot 420 Meter,
Bestrichener Raum bei Zündnadel 277 Meter,
Bestrichener Raum bei Chassepot 340 Meter.
Dazu kam das häufige Klemmen und der undichte Verschluß des Zünönadelgewehrs, bei dem zwei Ladegriffe mehr zu machen waren und zwei andere Anwendung von Gewalt verlangten. Plönnies erklärte 1872 das Zündnadelgewehr für ebenso wenig zum praktischen Gebrauch geeignet, wie etwa Fultons erstes Dampfschiff. ...
Der russische General Annenkoff, der uns vor Paris besuchte und sich auch für die Waffen eingehend interessierte, hielt die Leistungen des Zünönadelgewehrs auf 500 Schritt und des Chassepots auf 1500 Schritt für etwa gleich. 'Das Einzige, was man am Chassepotgewehr auszusetzen hat, ist der Umstand, daß man mit demselben nicht weiter als auf 1200 Schritt richtig zielen kann. Will man schießen und zugleich treffen, so muß man vom Gürtel aus anlegen, was die französischen Soldaten auch gewöhnlich thun. Der größte Theil der französischen Infanterie ist im Schießen nicht geübt, wodurch auch die schwache Wirkung ihres Feuers im Verhältnis zur Menge der verschossenen Kugeln erklärt wird.'"[59]
Auch Boguslawski schreibt in seinen Taktischen Folgerungen aus dem Kriege 1870-1871, dass "die [französische] Defensive, welche, wie wir später zeigen werden, unbezweifelt an Kraft gewonnen hat, durch eine bessere Infanteriewaffe wie die deutsche unterstützt war."[60] So verwundert es auch nicht, dass schon direkt im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg unter Militärs Diskussionen über die Waffenfrage der deutschen Infanterie begannen. Ein Beitrag im Beiheft zum Militair-Wochenblatt von 1871 beschäftigt sich mit der "Gewehrfrage", dabei klingt auch Kritik an der Rezeption in der deutschen Presse durch, wie zu lesen ist:
"Haben uns doch nachmals selbst Offiziere gestanden, daß sie in den ersten Gefechten einigermaßen überrascht gewesen, als die Franzosen nach etwa halbstündigem Feuer dasselbe noch fortzusetzen vermocht hätten, ohne von den Versagern, Mechanismushemmungen etc. des so arg geschmähten Chassepotgewehrs daran verhindert zu sein ...
Die relative Überlegenheit des Chassepotgewehrs wurzelte in ganz anderen Momenten.
Sowohl seine sehr rasante Flugbahn, wie seine große Wirkungsweite, beide eine Frucht des kleinen Kalibers und der dadurch möglichen Belastung des Querschnitts des Geschosses, wie der relativ großen Pulverladung, haben sich in so empfindlicher Weise geltend gemacht, daß das Urteil der Offiziere, wie der Soldaten in dieser Beziehung ein völlig einstimmiges und unumstößliches ist.
Einen um so auffallenderen Eindruck muß es demnach machen, wenn nach solchen evidenten Erfahrungen wiederum in der Tagespresse sich hier und da vereinzelte Stimmen vernehmen lassen, die auch ferner dem Zündnadelgewehr 'mit geringen Modifikationen' das Wort reden."[61]